Zur Veranstaltung „Israel, Palästina und wir“ waren mehr Personen gekommen als der Veranstaltungsort, der Jakobssalon bei guter Gesprächsatmosphäre fassen konnte, so dass einige leider keinen Einlass mehr bekommen konnten. Ungefähr 35 Personen fanden Platz.
Annette Goerlich, die langjährig bei der Böllstiftung arbeitet und einige Jahre in Tel Aviv gelebt hatte war gerade von einem vierwöchigen Aufenthalt dort zurück und berichtete von ihren Eindrücken: Sie erlebte die Gesellschaft in Israel als tief gespalten, nicht nur im politischen Sinne. Während die Ashkenazim aus Westeuropa ursprünglich zahlenmäßig dominierten, wachse die Einwanderung von Juden aus dem Osten und afrikanischen Staaten an. Sozial und räumlich seien diese Menschen eher an den Rand der israelischen Gesellschaft gedrängt – Netanjahu, selbst Ashkenazi gelänge es aber immer noch die sephardischen, ärmeren Juden für sich zu gewinnen.
Der Schock des 7. Oktober
Annette Goerlich berichtete, dass viele Israelis noch im Schock der traumatischen Erfahrungen des 7. Oktober lebten. Für 70 % der Bevölkerung sei die Befreiung der Geiseln, die inzwischen mehr als 200 Tage wahrscheinlich in Tunneln lebten oberste Priorität; zugleich seien aber auch 70 % für die militärische Ausrottung der Hamas. Sie glaubten der Regierung und stellten nicht in Frage, ob das überhaupt mit Waffengewalt gelingen könnte. Natürlich gebe es auch einen relevanten Teil der Bevölkerung, der einen sofortigen Waffenstillstand befürworte und viele intellektuelle Israelis, die vehement das Prinzip vertreten, dass Menschenrechte für alle gelten. Die Demonstrationen gegen Netanjahu, so berichtete Annette Goerlich, hätten während ihres Aufenthalts wieder zugenommen. Anfangs hätten sie nur in Tel Aviv stattgefunden; hauptsächlich seien traditionell kritische Linke und Friedensbewegte sowie die Angehörigen der Geiseln der Hamas dort gewesen. Inzwischen nähmen immer mehr, auch junge Menschen teil und die Demonstrationen breiteten sich über Tel Aviv hinaus aus. Fragen nach Zukunftsvorstellungen und Lösungen der Situation seien derzeit schwer zu beantworten, aber es gebe Hoffnung: Auch andere wie bspw. der irische, aber auch der deutsch-französische Konflikt seien sehr lange mit Waffengewalt ausgetragen worden, bevor doch politische Lösungen gefunden wurden.
„Teilseiend“ – Muslime in Deutschland
Nach diesen ersten Eindrücken erzählten Yasemin Soylu und Imen Bentemelliste davon, wie die Ereignisse in Israel und Palästina auch ihre Arbeit der letzten Zeit geprägt haben: Beide gehören der muslimischen Initiative „teilseiend“ an, Yasemin Soylu als Geschäftsführerin und Imen Bentemelliste als Referentin für Antisemitismus-kritische Bildungsarbeit. Der ungewöhnliche Name signalisiert, dass sie nicht jetzt oder erst in Zukunft „teilhaben“ wollen an einer deutschen Gesellschaft, die unabhängig von ihnen existiere. Vielmehr verstehen sie sich klar als integralen Teil der Gesellschaft und tragen zu ihr bei. In letzter Zeit werden sie häufig von Schulen angefragt, wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht wissen, wie sie mit den heftigen, gefühlsgeladenen Reaktionen von Schülerinnen und Schülern umgehen können. Es brauche, so ihre Erfahrung, geschützte Räume, in denen es möglich sei, Gefühle zu zeigen und zu erleben, dass auch die andere Seite Leid erfahre, dass es um Menschen und nicht um Feinde ginge. Auf Nachfrage berichteten Soylu und Bentemelliste, dass ihre Möglichkeiten, mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen, da endeten, wo ideologische Verhärtung schon stattgefunden habe. Darauf träfen sie aber in den wenigsten Fällen, – häufiger mischten sich Diskriminierungs- und rassistische Erfahrungen mit dem Erleben politischer und militärischer Konflikte.
Der Bericht der beiden muslimischen Referentinnen stieß auf viel Interesse im Publikum, insbesondere bei den anwesenden Lehrenden, die Erfahrungen mit massiven Gefühlsausbrichen und Konflikten unter Schülerinnen und Schülern gemacht hatten und offen über ihre eigenen Gefühle der Überforderung berichteten. Nach Nachfragen und Gespräch zu den Reaktionen junger Menschen entwickelte sich im Publikum eine konstruktive und differenzierte Diskussion über die eigenen Standpunkte. Erleichternd wurde die offene Atmosphäre empfunden, in der es selbstverständlich war, dass dem Terror der Hamas nicht das Wort geredet wurde, wenn differenziert-kritisch auf die israelische Regierung geschaut werde. Den abschließenden Beitrag hielt ein Israeli, der jetzt in Gaiberg wohnt, der deutlich machte, wie differenziert auch jüdische Israelis auf die Situation schauen: Er habe Hoffnung für die israelische Gesellschaft, solange die Demokratie imstande sei, die Justiz vor den Angriffen Netanjahus zu schützen und zumindest formal alle Menschen in Israel dieselben Rechte hätten.